CLOSE-UP – EINE FRAUENSACHE?

Jesus ist nicht nur ein Zeichen – er war auch ein Mensch. Sein Körper wurde gefoltert und geopfert. Nicht nur im übertragenen Sinn steht er für alle Opfer dieser Welt. Und was könnte seine Opfergabe besser zum Ausdruck bringen als das Zeigen seiner Blöße. Wie Hartmut Böhme formuliert: „Der nackte Mann ist eben immer auch der Gefahr der Demütigung, Verletzung, Beschämung, ja der Preisgabe, Folterung und Hinrichtung ausgesetzt.“ Die erzwungene Nacktheit ist die Demütigung. [1]

Wenn es um die Passion Jesu geht, wäre es demnach folgerichtig, ihn entblößt, ohne den Schutz eines Lendentuches zu zeigen, um sein Leid in voller Härte wiedergeben zu können. In der Geschichte der bildlichen Darstellungen von Christus ist die Abbildung seiner Genitalien in nackter Form jedoch generell ein Tabu.

Die Renaissance als Epoche scheint eine Ausnahme zu sein. Leo Steinberg [2] hat in seinem kontrovers diskutierten Buch gezeigt, dass es in der Renaissance sogar eine Notwendigkeit gewesen ist, Jesus nackt darzustellen, sowohl den Opferleib als auch das Christuskind. Damals bedurfte es nämlich weniger den Beweis dafür, dass Jesus Gott ist. Was erklärt werden musste, war sein menschliches Inkarnat. Denn wenn er nur eine göttliche Natur gehabt hätte, wäre seine Auferstehung kein Zeichen für die Gnade Gottes für die Menschheit gewesen. Für seine menschliche Natur stand seine Männlichkeit symbolhaft. Die Kunst war das vermittelnde Medium, um diese These zu behaupten und den Beweis zu verbreiten.

Natürlich gibt es sehr viele Darstellungen mit einem Tuch über die Hüfte von Christus, die aus der Renaissance stammen. Doch viele andere mit seinem nackten männlichen Körper wurden erst später im Barock mit Lendentüchern versehen – gemalte Bilder wie plastische Crucifixae.

Wie sieht es heute aus? Wir sind heute offen und gehen nicht nur mit der Nacktheit völlig anders um, sondern wir betrachten auch Jesus mit anderen Augen. Viele Jesus-Darstellungen wurden gereinigt und restauriert und in ihren ursprünglichen Zustand versetzt, um den historischen Blick auf die Kunst zu gewähren. Andererseits sind wir nicht mehr eifrig daran interessiert, seine Blöße zu sehen, denn wir brauchen nicht den Beweis für seine Menschwerdung. Auch kennen wir ihn – in Folge der barocken Maßnahmen der Verhüllungen – meist ohnehin mit Lendentuch und wir staunen eher, wenn uns ein nackter Jesus in einem alten Kunstwerk begegnet.

Was bedeutet aber der Körper Jesu in einer modernen, wohlhabenden, aufgeklärten Gesellschaft? Wenn er nackt auf dem Kreuz gemalt wird, wie häufig in der Nachkriegskunst, dann wohl mit der Absicht der Schokierung und mit dem Hinweis auf die Brutalität der Gewalt, die Menschen einander auch heute noch zufügen, man denke nur an Bürgerkriege.

Ein nackter männlicher Körper kann aber auch etwas ganz anderes bedeuten als über Verletzlichkeit zu sprechen. Nackte Darstellungen des Mannes, die den Schambereich isoliert, dekontextualisiert, mit einem fotografischem Blick einfangen, stammen häufig von Künstlerinnen.

Eine der bekanntesten deutschen Fotokünstlerinnen wurde Mitte der 80er Jahre gerade mit solchen Bildern berühmt. Herlinde Koelbl benennt ihre Modelle in den Werktiteln und dadurch zeichnet sie diese als Porträts aus. Die Porträtierten zeigt sie sehr menschlich, körperlich, sinnlich. Von den Körpern der Männern sind in ihren Fotografien oft nur Ausschnitte zu sehen.

Auch auf dem Foto Male Nude: California (1982) der Fotografin Sarah Kent ist ein Ausschnitt eines nackten männlichen Körpers zu sehen: im Zentrum des Bildes die Genitalien in Frontalansicht. Der Auschnitt endet oben unterhalb des Bauchnabels und unten auf der mittleren Höhe des Oberschenkels. Der rechte Unterarm und die Hand sind ebenfalls auf dem Bild, und der Torso steht unmittelbar vor einer felsigen Wand. Die Künstlerin beschreibt die Arbeit als Abbildung eines geliebten Körpers [3]. Auch die Malerin Emilia Kallock verortet ihre Aquarell-Serie mit dem Titel Penis im erotischen Bereich.

Ganz anders beschäftigte sich die berühmte US-Amerikanische Malerin Georgia O’Keeffe (1887-1986) mit der fotografischen Nahsicht auf scheinbare – Blumen, und vergrößerte sie diese zu großformatigen Gemälden, die das ursprüngliche Motiv ins Abstrakte überführten. Zu ihrer Zeit war der fotografische Blick in der Malerei noch ein Neuland.

Die schottische Malerin Ellen Altfest richtet in ihrem Werk den Blick ebenfalls auf kleine Details: Baumrinder, Textilfragmente, oder Körperteile wie die Achselhöhle (2005). Sie setzt diese in minituöser Malweise in kleinen Formaten um. Auch der männliche Schritt taucht in ihrem Motivrepertoire auf. Die Bilderserie Penis (2006) ist eine nüchterne, distanzierte Bestandsaufnahme mit einem (nur scheinbar) naturwissenschaftlichen Blick.

Emese Kazár, Disaster (2014) Öl auf Leinwand, 70×50 cm

Auch heute haben solche Bildfindungen in der Kunst immer eine gewisse Konnotation. Wie Germaine Greer anmerkt [3]: „Abbildungen, auf denen nur die Genitalien zu sehen sind, findet man in der Regel nur in medizinischen Fachbüchern und in der Pornografie“. Deswegen bedeutet ein Ausschnitt des Schambereichs in der Kunst, dass nicht zuletzt unser voyeuristischer Blick zum Thema gemacht wird.

[Meine eigene Arbeit Disaster (2014) sei hier als Beispiel herangezogen. Der Ausschnitt und das Motiv zitieren Gustav Courbets berüchtigtes Werk Der Ursprung der Welt (1866). Durch die Schichtung der Malerei entstehen in meiner Arbeit jedoch unterschiedliche Bildebenden, so dass der nur grob und in raschen Pinselstrichen angedeutete Pubis und Vulva von der Malhaut, die den Körper andeutet, getrennt ist. Die Fragmentierung des Körpers durch ihre Platzierung auf unterschiedlichen Bildebenen und die Abstraktion negieren genau das, was sie andeuten zu zeigen.]

Was diese Übersicht mit meinem aktuellen Arbeitsprozess zu tun hat? An dieser Stelle sei nicht zu viel verraten. Tatsache ist, wenn es um den Männerkörper geht, kann ich ihn auch nur mit Frauenaugen betrachten. So wie meine Vorgängerinnen konzentriere ich mich auf die Details in Nahsicht. Bei meiner Arbeit geht es jedoch um einen Mann, der erotisch gänzlich unnahbar ist.

Literatur

[1] Hartmut Böhme, Die Nackten und die Toten. Monopol 12: 58-62 (2012)

[2] Leon Steinberg, The Sexuality of Christ in Renaissance Art and Modern Oblivion. The University of Chicago Press, 1983

[3] Germaine Greer, Der Knabe. Gerstenberg Verlag, 2003 (Im Original: Germaine Greer, The Boy. Thames and Hudson, London 2003)

DAS KREUZ – EINE MÄNNERSACHE?

In meinem letzten Beitrag habe ich die Geschlechtlichkeit des Christus-Bezugs in der modernen Kunst bereits angesprochen. Während es bis zum späten 19. Jahrhundert, also bis zu den Anfängen der Emanzipation, nicht wundert, dass (auch) christliche Themen in der bildenden Kunst hauptsächlich (wenn nicht ausschließlich) von männlichen Künstlern bearbeitet worden sind, stellt sich für mich die Frage, ob das Thema des Jesus-Bildes, die Geschichte seiner Passion, die Kreuzigung, und letzlich die Christus-Identifikation des Künstlers mit ihm als Person, auch in der Moderne und in der Gegenwart eine klare Männersache ist.

Ich bin nun keine Kunstwisenschaftlerin und der Rahmen, den dieser Blog stellt, reicht natürlich nicht aus, um die Frage ausführlich und mit dem Anspruch der Vollständigkeit zu untersuchen. Trotzdem, da ich eine Malerin bin und mich im Rahmen meines Stipendiums gerade (auch) mit den genannten Bildmotiven auseinandersetze, frage ich mich natürlich, auf welche Vorgänger und Vorgängerinnen ich aus der künstlerischen Moderne und der zeitgenössischen Kunst zurückblicken kann.

Bildhauerinnen ab den 1920er Jahren bis etwa zum zweiten Weltkrieg erhielten in Deutschland viele Aufträge für die Ausstattung von Kirchen – in diesem Kontext waren in der umfangreichen Ausstellung Bildhauerinnen im Gerhard Marcks Haus (5. Mai bis 11. August 2019) Arbeiten von Künstlerinnen, die Christus als Mann am Kreuz oder in seiner Passion zeigen, zu sehen. In dem Raum, in dem die Kuratorin religiöse Bildwerke von Bildhauerinnen zusammengeführt hat, hing zum Beispiel ein Foto von einem in der Maria-Hilfe der Christen/Konstanz aufgestellten Crucifix von Gisela Bär (1968) und stand eine Kreuzigungsgruppe aus Lindenholz von Ruth Schaumann (1942).

Wie sieht es denn aus in der Kunst der Nachkriegszeit und insbesondere in der Malerei? Als erstes fällt mir der Name Michael Triegel ein. Der 1968 in der DDR geborene und in Leipzig studierte Künstler ist unter anderem auch für seine christlichen Auftragswerke bekannt. Auch wenn der Maler seinem Jesus das eigene Konterfei verleiht haben soll, ist er sicherlich kein Beispiel für die Christus-Identifikation. Für mich gilt er als ein Maler, der im klassischen Sinn die christliche Bildtradition weiterführt. Ein Interview mit ihm findet der Leser/die Leserin unter:

http://www.zeit.de/2017/20/kunst-religion-michael-triegel-jesus

Ältere, aber nicht minder bedeutende Beispiele aus der jüngeren Geschichte der Malerei und Druckgrafik führt Wieland Schmid in seinem Begleittext, Christus und der Künstler [1] zusammen. Der Text ist in meinem vorherigen Beitrag bereits angesprochen worden. Das prachtvolle Band ist der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung anläßlich des 20. Weltjugendtages 2005 im Wallraf-Richartz-Museum, ein Gemeinschaftsprojekt der Fondation Corboud der Stadt Köln und der Fondazione Gioventu Chiesa Speranza/Citta del Vaticano.  Zum Thema Christus und der Künstler bzw. speziell zur Kreuzigung sind folgende Positionen aus der Moderne – seit dem späten 19. Jahrhundert – herangezogen: James Ensor, Max Beckmann, Lovis Corinth, Marc Chagall, Wassili Petrowitsch Werestschagin, Pablo Picasso, Renato Guttuso. Allesamt männliche Künstler.

Das Buch: Cruxifixus – Das Kreuz in der Kunst unserer Zeit [2] aus den 90er Jahren deutet in seinem Untertitel auf einen repräsentativen Querschnitt durch die damalige Kunstproduktion an. Das Buch ist in neun Kapiteln gegliedert, jedes Kapitel widmet sich einem Künstler. Georg Baselitz, Francis Bacon, Joseph Beuys, Markus Lüpertz sind wohl die Bekanntesten Künstler, die sich in ihrem Werk mit dem Thema befasst haben und im Buch vertreten sind. Auch die fünf anderen Künstler, deren Werk besprochen wird, sind Männer.

Der Katalog zur Ausstellung Seeing Salvation aus dem Jahre 2000 [3] ist ein wirklich tolles Buch, das viele Aspekte des Christusbildes in einer verständlichen Sprache und dennoch sehr gründlich behandelt. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit dem Christusbild in der bildenden Kunst Englands aus dem 20. Jahrhundert. Zwei Beispiele sind zum Thema Kreuzigung zu finden: Stanley Spencers Gemälde zeigt den das Kreuz tragenden Christus an einem heiteren Tag im zeitgenössischen Londoner Milieu. Das wohl bekannteste religiöse Bild des 20. Jahrhunderts ist hingegen der Cruxifixus-Gemälde von Salvador Dalí. Es faszinert auch heute noch. Enttäuscht bin ich nur wegen meinem Misserfolg, eine Künstlerin auffindig zu machen.

Der Leser/die Leserin soll mich bitte nicht falsch verstehen. Mir geht es gar nicht darum, dass beziehungsweise ob die Kunstgeschichtsschreibung weibliche Positionen ignoriert und dass Frauen in der religiösen Kunst unterrepräsentiert sind. Meine Fragestellung geht eher in die Richtung, ob das Thema der Kreuzigung und die Christus-Identifikation für Künstlerinnen überhaupt von Belang ist. Denn es ist für einen Mann naheliegender als für eine Frau, sich mit dem geopferten Körper Jesu zu identifizieren. Ein Beispiel aus einem eher Randgebiet der Kunst liefert ein weiteres Indiz hierfür.

Es geht um Gunther von Hagens, den „Plastinator“, wie er sich selbst nannte, einen Mann, der den Tod des Körpers zu überwinden glaubte. Selbst wer seine Körperwelten nicht gesehen hat, hat über die anfangs viel diskutierte Ausstellung der plastinierten (in Plastik überführten) menschichen Leichen mit Sicherheit gehört. Nun hat auch von Hagens einen Beitrag zum Thema des Gekreuzigten geleistet. Für dieses Projekt hat er keinen ganzen Körper genommen, sondern er schuf quasi eine Skulptur aus Gefäßapparaten von mehreren Leichen. Im Dokumentarfilm mit dem Titel Crucifixion (von Srik Narayanan/The Garden Productions, ausgestrahlt auf Channel4 am Ostersonntag, 8. April 2012) hat er dann seine eigene Passion inszeniert. Zu dem Zeitpunkt wusste er bereits von seiner Parkinson-Erkrankung. [4]

In Jürgen Zänkers Einband: Cruxifixae. Frauen am Kreuz [5] werde ich endlich fündig. Zwei der aufgeführten Beispiele sind von Künstlerinnen. Die Malerin Ina Barfuss (geb. 1949) ist mit ihrer Arbeit „Die heilige Ignoranz“ vertreten, ein Gemälde, das wohl als feministische Klage galt. Auf dem Kreuz ist ein weiblich identifizierbarer Körper zu erkennen. Die andere Künstlerin ist eine Fotografin: Die Arbeit „Chère absente: Epiphanies“ aus den Jahren 1992/1994 ist von Arièle Bonson (geb. 1955). Auch hier erkennt man weibliche Körper(fragmente), angeordnet in Form eines Kreuzes.

Mir ist überdies die großartige Fotoarbeit Hannah Wilke Super T-Art aus dem Jahr 1974 von Hannah Wilke bekannt. Da ich die Künstlerin sehr schätze, erlaube ich mir eine etwas ausführlichere Beschreibung. Als wichtige Referenzen galten für meine Recherche und sind die Grundlage für die folgende Besprechung die Beiträge von Isabelle Graw und Judith Barry [6]. Wilkes Werk ist im Internet besprochen und abgebildet unter:

http://www.hannahwilke.com/id5.html

research on Hannah Wilke

Hannah Wilke Super T-Art besteht aus zwanzig gleichgroßen, hochformatigen Schwarzweißfotos, angeordnet in vier Reihen (jeweils fünf Fotos in jeder Reihe). In den zwanzig Fotos stellt sich Wilke der Kamera in zwanzig verschiedenen Posen. Sie steht auf jedem Foto auf dem selben weißen Sockel, der den skulpturalen Charakter ihrer Figur betont. Der Ausschnitt und die Kameraeinstellung ist jeweils identisch, lediglich die Pose ändert sich vom Bild zu Bild. Die Künstlerin trägt die hochhackigen, weißen Sandalen, die in ihren fotografischen Selbstinszenierungen praktisch zu ihr „Erkennungsmerkmal” wurden. Dieses Schuhwerk steht im Gegensatz zu den klassisch anmutenden Posen der Fotografien und ist ein Symbol der verführerischen, modernen Frau. Abgesehen von den Schuhen und einem weißen Tuch, das ihren Körper umhüllt, ist sie nackt.

Die Anordnung der Fotografien in Reihen gibt eine Leseart von oben links nach unten rechts vor. Demnach leitet sie die Fotoserie mit der Pose einer klassischen Frauenfigur ein. Ihre Pose deutet entweder auf eine Göttin oder auf den predigenden Jesus. Zur Mitte der ersten Reihe ist sie mit den vor der Brust gekreuzten Armen und gesenktem Kopf als Jungfrau Maria, Symbol u.a. von Unschuld und Frömmlichkeit, erkennbar. Später in der Reihe und am Anfang der zweiten Reihe erinnert sie an die Darstellungen von stigmatisierten Heiligen. Ab dem Ende der zweiten Reihe und in der dritten Reihe, wo sie sich enthüllt, könnte man an Maria Magdalena denken. In der katholischen Tradition ist Maria Magdalena mit der Sünderin, die Jesus die Füße wäscht, gleichzusetzen. Später wurde die genannte Sünderin als Prostituierte verstanden, weshalb Maria Magdalena oftmals als solche betrachtet wurde.


Emese Kazár: Magdalena, Teil 5. 2016, Öl/Leinwand, 50 x 37 cm

[Zum Thema Maria Magdalena entstand meine Jahresgabe für die GAK |Gesellschaft für Aktuelle Kunst Bremen in dem Jahr, in dem Maria Magdalena von der Kirche offiziell rehabilitiert wurde. Heute gilt sie als eine der Jünger Jesu. Meine 5-teilige Arbeit besteht aus einem zerstückelten Gemälde, das Maria Magdalena in bußender Haltung auf den Knien darstellte.]

Zurück aber zu Hannah Wilke. In der letzten Reihe schlägt die Künstlerin mit ihren Armen herum: Sie wird zu einer unkontrollierbaren Hysterikerin. Die Hysterikerin ist im 19. Jahrhundert die klassische Repräsentation der sexuell unterdrückten Frau. Schließlich im letzten Bild unten rechts nimmt sie ihre Stellung als gekreuzigter Jesus ein. All dies vollzieht sich als eine verführerische Burleske, wobei das Tuch, das sie bedeckt, zu ihrem Hilfsmittel wird.

Die Arbeit stellt eine Reihe von Identitäten dar, dabei nimmt Wilke die Formensprache christlicher Ikonografie auf. Zwar bleibt ihr Gesichtsausdruck konstant, verschiebt sich dessen Bedeutung jedoch subtil durch das Verändern der Gesten oder das Neuarrangement des Tuches. In der Figur der Heiligen mit dem nach innen gekehrten Blick lassen sich ihre niedergeschlagenen Augen als Kontemplation lesen, aber auf dem Bild, auf dem sie ihren Scham zu berühren scheint, könnte man den gleichen Gesichtsausdruck als Signal autoerotischer Lust interprätieren.

Ich finde die Arbeit gerade in ihrer Ambivalenz sehr spannend. Denn Wilke stellt sich in der Selbstinszenierung keineswegs als Opfer in Szene, sondern als aktive Darstellerin. Die Anlehnung an die christliche Ikonografie ist mutig und frech, denn die Serie ist gleichwohl ein Striptease. Die Umwandlung zum Gekreuzigten zeigt aber deutlich, dass die Arbeit nicht die christliche Kunst auf die Schippe zu nehmen beabsichtigt. Im Gegenteil: sie nutzt unser kollektives Bildgedächtnis, um darüber hinauszugehen und subversiv ihre Position als Frau zur Disposition zu stellen. Gerade das letzte Bild, die Umwandlung in den Gekreuzigten zeigt dem Betrachter, dass die Maskerade ihren Preis fordert.

Nach diesem Überblick komme ich zu meiner Schlussfolgerung. Es scheint, dass auch Künstlerinnen der Gegenwart (Nachkriegszeit) sich der christlichen Ikonografie bedienen, dies jedoch im feministischen Kontext – bezogen auf den Frauenkörper und sein gesellschaftliches Bild. Alle drei Beispiele, die ich bislang finden konnte, wenden die christliche Ikonografie auf den weiblichen Körper an.

Giovanni Pietro Rizzoli genannt Giampietrino, Cristo portacroce. Öl auf Holz, 63,5 x 48 cm

Literatur

[1] Wieland Schmid, Christus und der Künstler. Kapitel 4 in: R. Krischel, G. Morello, T. Nagel (Hrsg.) Ansichten Christi. DuMont Verlag, 2005.

[2] Friedhelm Mennekes, Johannes Röhrig (Hrsg.) Cruxifixus – Das Kreuz in der Kunst unserer Zeit. Herder Verlag, 1994

[3] Gabriele Finaldi et al., The Image of Christ. National Gallery Company Limited, London 2000.

[4] Liselotte Hermes da Fonseca, Wissenschaftliche Transzendenz der Körperwelten. Aufhebung der „Beschränkung von Freiheit“ durch Leben, Tod und Körper. In: Wolf Gerhard Schmidt (Hrsg.) Körperbilder in Kunst und Wissenschaft, Königshausen & Neumann, 2014

[5] Jürgen Zänker, Cruxifixae. Frauen am Kreuz. Gebr. Mann Verlag, 1998 Berlin

[6] Isabelle Graw: Lebendige Erinnerung. pp. 13-25 und Judith Barry: Ein Leben mit Widersprüchen – Hannah Wilke. pp. 87-98. In: Unterbrochene Karrieren. Hannah Wilke 1940-1993. Ausstellungskatalog. Neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V. (Hrsg.), Berlin 2000.

CHRISTUS UND DIE KÜNSTLERIN*

*Eine Paraphrase zu Wieland Schmids Titel, Christus und der Künstler [1]. Der Titel ist politisch korrekt formuliert: im Text werden ausschließlich Werke von männlichen Künstlern in Betracht gezogen, in der Zeitspanne von Albrecht Dürer (1500) bis Andy Warhol (1986).

Seit Albrecht Dürer sein berühmtes Selbstporträt als Jesus schuf, haben sich Künstler immer wieder gerne in die Rolle des leidenden Christus geschlüpft und sich mit ihm als Opfer identifiziert. Dieses Phenomän heißt Christus-Identifikation. „Der gemarterte Christus wird als Ankläger der Verbrechen des jeweiligen Zeitalters eingesetzt“ – schreibt Wieland Schmid [1].

Interessiert mich dieser Aspekt des Jesus-Bildes? Möchte ich mich als Jesus in Szene setzen und malen? Werde ich mich selbst in einem Bild auf den Kreuz nageln, um meine Außenseiterrolle als Künstler (bzw. Künstlerin – mit einer doppelten Benachteiligung in der Gesellschaft als Frau und als Kunstschaffende) bildhaft vor Augen zu führen?

Um die Frage zu beantworten, erlaube ich mir einen kleinen Exkurs. Ich habe mich im Grunde genommen nie in meiner Arbeit ernsthaft dem Thema Selbstporträt gewidmet. Mich selbst habe ich zwar mehrmals in Vergangenheit gezeichnet, aber nur als Naturstudie und  lediglich um das Geld für das Modell einzusparen, beziehungsweise gemalt, am Anfang meines Studiums, um mich dem Medium Malerei zu nähern.  Dass/Ob man mich erkennen konnte, war nebensächlich. Als Selbstporträt habe ich diese Skizzen auch nicht benannt.

Emese Kazár: Zwillinge. 2018, Öl/Leinwand, 110 x 80 cm

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich es zwar tatsächlich vorgehabt, ein Selbstporträt zu malen. Als 2016 ein längerer Aufenthalt in meiner Geburtsstadt Budapest bevorstand, kam ich auf diese Idee, um ein Zwischenbilanz zu ziehen. Wie sehe ich mich dort, zurück bei den Wurzeln, weit weg von meiner Wahlheimat, in der ich überhaupt zur Kunst kam? Das Vorhaben scheiterte abermals und nach mehreren Anläufen habe ich das Bild letzlich aufgegeben und weggestellt. Die bereits gut durchgearbeitete Leinwand konnte ich erst zwei Jahre später in Bremen fertigstellen – sie ist unter dem Titel Zwillinge eine meiner Lieblingsarbeiten aus dem Jahr 2018 geworden. Sie hat keinerlei Bezug zur Heimat, keine Spur von einem Selbstbildnis, keinen inhaltlichen Zusammenhang mit einem biografisch motivierten Bilanz.

Wenn ich also die Möglichkeit des Selbstporträts in meiner künstlerischen Praxis nicht zur Selbsterforschung nutze, liegt es nahe, dass ich das symbolische Wert einer Selbstinszenierung als Jesus sehr wahrscheinlich nicht nutzen werde (möchte).

Wie sieht es denn aus mit dem  Aspekt des Rollentausches? Ich meine nicht den Tausch der Geschlechter in der Verkörperung Jesu (ich als Frau in der Rolle des männlichen Jesus). Ich meine den Rollentausch der Geschlechter zwischen Autor (Subjekt) und Bildmotiv (Objekt), wie es in der Malerei (und Bildhauerei) traditionell festgelegt war. Erstens war der Beruf des Künstlers (früher als Handwerker, später als freiberuflich Schaffender) für lange Zeit Männern vorbehalten. Auch noch im Barock, da es bereits viele Künstlerinnen gab, kann man davon ausgehen, dass sie eher im häuslichen Milieu ihre Werke schufen denn für große Aufträge im öffentlichen Raum tätig waren. Wenn es in der späteren Geschichte der westlichen Kunst der Norm war, dass ein männlicher Künstler in seinen Bildern nackte Frauen darstellte (manchmal auch zusammen mit gut bekleideten Herren [2]), so ist die Position der Künstlerin, die einen nackten Mann malt, wenn auch nicht mehr ganz neu, aber möglicherweise immer noch spannend.

Die Idee, analog zum Ansatz der männlichen Meister der (neueren) Kunstgeschichte, aber spiegelverkehrt zu agieren, wurde bereits in den 70er Jahren praktiziert: etwa wenn Sylvia Sleigh männliche Modelle in Odalisken-Posen, in erkennbahrer Anlehnung an Gemälden von Jean-Auguste-Dominique Ingres malte. Das Prinzip, den sogenanneten male-gaze seitenverkehrt anzuwenden, um dabei die herkömmlichen Machtverhältnisse zu entlarven, wurde und wird in der feministischen Kunst vielfach eingesetzt. Viele Beispiele und eine tolle Zusammenfassung zu diesem Thema bietet der kürzlich erschienene Ausstellungskatalog IN THE CUT [3].

Aus meiner Sicht ist vor allem der Moment der Zurschaustellung spannend. Das ist ein zentraler Punkt des Jesusbildes, ja, des Menschenbildes überhaupt. “Fällt der Mensch in der Begegnung mit dem anderen in den Modus des Blicks, also einer gerichteten, interessegeleiteten Betrachtung, besetzt er den anderen mit seinem Begehren und seinem Machtanspruch.“ – schreibt Dr. Rainer Beßling [4].

Von den Größten der modernen Malerei sei hierzu auf Lucian Freud hingewiesen, der den Aspekt des Betrachtens/Betrachtetwerdens zwischen Maler und Modell in seinem großartigen Gemälde Painter and Modell (1986-87) explizit zum Thema gemacht hat. Hier steht eine Malerin an der Staffelei und sowohl sie als auch wir Bildbetrachter schauen dem nackten männlichen Modell direkt zwischen die Beine. Eine tolle Ausstellung zum Thema zeigte das Irish Museum of Modern Art  bis vor Kurzem:

https://imma.ie/whats-on/imma-collection-freud-project-gaze/

Hinzu kommt, dass Jesus natürlich nicht irgendein Mann ist. Jesus war, von seiner Konzeption an, der Logos: das Fleisch gewordene Wort, die Inkarnation. Sein Antlitz, sein Leib ist nie frei gewesen. Er war Gott, aber er war auch Mensch. Sein Körper musste leiden, damit der Plan der Erlösung der Menschheit aufgehen kann. Zu diesem Plan hat sich Jesus bereits als neugeborenes Kind bekennt. Das Leiden dieses Körpers fing nicht zufällig bereits am 8. Tag seines Lebens an, an dem er nach jüdischer Tradition beschnitten wurde. Mit 33 Jahren wurde der selbe Körper gefoltert und geopfert.

Aus diesem Grund interessiert mich Jesus hauptsächlich nicht als Mann, sondern als Mensch in einem – männlichen – Körper.

[1] Wieland Schmid, Christus und der Künstler. Kapitel 4 in: R. Krischel, G. Morello, T. Nagel (Hrsg.) Ansichten Christi. DuMont Verlag, 2005.

[2] Edouard Manet, Frühstück im Grünen (1863) Öl auf Leinwand, 208x 264,5 cm. Musée d’Orsay, Paris

[3] Andrea Jahn [Hrsg.] IN THE CUT. Der männliche Körper in der Feministischen Kunst. Kerber Verlag, Bielefeld 2018

[4] Rainer Beßling, Gesicht und Antlitz, Körper und Leib. Zu den Bildnissen der Malerin Emese Kazár. In: Rainer Beßling: Bildersprachen – Reden über Kunst. Open Space Verlag Bremen, 2018

DAS VERMISSTE BILD UND DIE FARBE DES WISSENS

Ist dem Leser/der Leserin schon mal aufgefallen, dass die Rücken der Bücher in ihrer Farbigkeit auf den Inhalt des jeweiligen Bandes verweisen? Naturwissenschaftliche Literatur, die sich den Meeren und deren Lebewesen widmet, steht zum Beispiel ganz im Zeichen des Blaus.

Die Bibliothek eines Kunstliebhabers sieht ganz anders aus. Die Künstlerkataloge und  Bilderbände sind natürlich sehr unterschiedlich in ihrer Fabigkeit. Es gibt jedoch eine Region in meiner bescheidenen Sammlung, die eine recht einheitliche Farbpalette aufweist. Die Rücken so wie die Cover der Einbände in diesem Regal sind Schwarz mit einem weißen Schriftzug, oder sie sind Weiß mit schwarzen Buchstaben. Häufig taucht die Farbe Rot auf, entweder als Schriftfarbe auf weißem Grund, oder als Cover-Grundton hinter weißer Schrift.

Es handelt sich hierbei um Bücher bis 26 cm Rückenlänge. Größere Bücher passen nicht hinein, oder ich müsste sie quer legen, was ich ungerne tue. Neben der Größe gibt es andere Kriterien, die ein Buch berechtigen, in dieses Regal einsortiert zu werden – wer würde schon darauf kommen: inhaltliche.

Das Inhaltliche ist aber eher locker gefasst. Es geht grundsätzlich um Kunstgeschichte. Der Ursprung der Bücher ist indes sehr unterschiedlich. Alles, was sich in den Jahren zusammengesammelt hat. Hans Jantzens Kunst der Gothik beispielsweise habe ich lange gejagt, bis schließlich meine Mutter sie in einer Antiquariat bekommen und mir geschenkt hat. Ungarische Forscher urtümlicher Gesellschaften [meine Übersetzung] habe ich nie gelesen und es hat mich auch nie gereizt, es auch nur aufzuschlagen, doch der Eintrag (mein Name, im Bezirks-Zeichnungswettbewerb den 1. Platz erreicht) gewährt diesem Band den Ehrenplatz in diesem Regal. Es gibt hier auch Biografien, etwa des Albrecht Dürers, Rembrandt van Rijns oder des Francis Bacons. Einheit schafft in dieser Heterogenität wie gesagt die Größe der Einbände sowie die Farbigkeit ihrer Rücken.

Zwei habe ich nun ausgesucht. Western Society and the Church in the Middle Ages  von Richard W. Southern sowie Die Byzantinische Welt von Joan M. Hussey. Auf die beiden kam ich durch einen fundamentalen Punkt meines gesamten Anliegens. Mir läßt die Frage derzeit kaum Ruhe, wie die Physiognomie des Jesus-Antlitzes, das im Mittelalter so hartnäckig kopiert wurde und das wir heute als Jesus kennen und erkennen, entstanden ist. Ist das Antlitz Jesu, das auf den Vera-Ikonen dargestellt ist, wirklich authentisch? (Es gibt weniger wichtige, verwandte Fragen. Warum wurde Jesus mal mit, mal ohne Bart dargestellt, manchmal sogar im selben Gebetsbuch?*)

Ich brauche nicht zu sagen, dass ich auf meine Frage keine Antwort erwarte. Die Vera-Ikon (das wahre Bild), die als Abdruck des Antlitzes Christi vielfach kopiert wurde, ist möglicherweise beim Sacco di Roma 1527 aus dem St. Petersdom verschollen. (Möglicherweise aber auch nicht. Zu sehen bekommt man sie so oder so nicht.) Die Version der Physiognomie des bartigen, langhaarigen Jesus mit der langen, geraden Nase und den schmalen Lippen war allerdings bereits längst etabliert, als die Reproduktion der Veronika im Spätmittelalter in die Gänge gekommen ist. Auch ist in den ersten Berichten über den Sudarium (das Schweißtuch der Veronika) aus dem 11. Jahrhundert von einem Bild gar nicht die Rede. Der Lentulus-Brief, das vermeintliche Augenzeugenbericht von Jesu Antlitz, wurde wiederum ausgerechnet von den Veronika-Bildern inspiriert und er wird vom 13. oder 14. Jahrhundert datiert. Der Mandylion von Edessa, ebenfalls ein Acheiropoieton (ein Bild, das nicht von Menschenhand gemacht wurde), existiert gleich in drei Originalfassungen in Paris, Genova und Rom, alle erst seit dem 13./14. Jahrhundert bekannt. Auch das Turiner Grabtuch ist möglicherweise ein fake aus dem selben Zeitraum, zumindest wenn man der wissenschaftlichen Datierung des Textilgewebes Glauben schenken möchte.

Die Reliqien, die mit Jesus einen direkten Körperkontakt hatten und die seine Gesichtszüge auf misteriöser Weise aufgenommen und aufbewahrt haben, helfen also in dieser Hinsicht nicht weiter. Wie sieht es aus mit den anderen Urbildern?

Die älteste bildliche Fassung des Salvators ist das Acheiropoieton aus dem Lateran in Rom. Leider ist das Bild verschwunden, geblieben ist lediglich das Holz, das das Bild ursprünglich trug**.

Dennoch kann man davon ausgehen, dass im Mittelalter jeder Christ sich dessen sicher war, das wahre Antlitz Jesu zu kennen. Die östlich-christliche Kirche war darauf bedacht, das Bild ikonografisch zu fixieren, und dieses Bild verbreitete sich auch im Westen. In der westlichen Kunst etablierte sich später jedoch die Praxis, das Jesusbild ständig zu aktualisieren, dem jeweiligen Schönheitsideal anzupassen. Die Version, die uns heutzutage geläufig ist und auch in Film und Popkultur kultiviert wird, stammt aus dem 19. Jahrhundert.

Damit ist diese Geschichte zu Ende erzählt – das verlorene Bild wahrt sein Geheimnis. Doch die eigentlich interessante Frage ist weniger, wie Jesus in Wahrheit ausgesehen hat. Spannend ist viel mehr die Geschichte des Jesusbildes selbst, also wie das Bild Jesu in der Geschichte des Bildes entstanden ist bzw. sich entwickelt hat. An diesem Punkt sei lediglich auf weiterführende Literatur hingewiesen: Teil I. in Gerhard Wolf, Schleier und Spiegel – Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance. Wilhelm Fink Verlag, 2002 sowie Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. Verlag C.H. Beck, 2005.

*sog. Sakramentar von Metz, fol. 5r vs. 6r. Veröffentlicht in: Tobias Frese, Die Maiestas Domini als Bild eucharistischer Gegenwart, figs. 7, 9. In: Martin Büchsel, Rebecca Müller (Hrsg.) Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 10, Gebr. Mann Verlag Berlin, 2010.

** Serena Romano, Rom und die Ikonen. In: Martin Büchsel, Rebecca Müller (Hrsg.) Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 10, Gebr. Mann Verlag Berlin, 2010.

Weiterführende Literatur:

The Image of Christ. National Gallery, London. Yale University Press, 2000.

Ansichten Christi. Christusbilder von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Roland Krischel, Giovanni Morello, Tobias Nagel (Hrsg.) DuMont Verlag, 2005

IM ANFANG WAR DAS WORT*

Am Anfang kam der christliche Kult ohne Bilder aus…

…und heute blicken wir auf eine unglaubliche Fülle von Bildern zurück, die das Fleisch gewordene Wort darstellen. Alleine die Bildtypen, die die Kunstwissenschaft unterscheidet je nachdem, wie Jesus in unterschiedlichen Posen, mit unterschiedlichen Attributen, in unterschiedlichen Szenen gezeigt wird, sind unfassbar zahlreich.

Wie kann ich meine Aufgabe, mich mit der Darstellung Jesu auseinanderzustezen, bewältigen? Selbst wenn ich mich ausschließlich auf den Ecce homo-Bildtyp beschränken wollte, müsste ich feststellen, dass auch hier ein unerschöpfbarer Fundus an Bildern vorhanden ist. Um bei dem Ecce homo zu bleiben, ist die formale Vielfalt der künstlerischen Formulierungen trotz wiederholter Muster beeindruckend. Seit der Renaissance und auch in der Moderne ist Ecce homo oftmals als Büste oder Halbfigur dargestellt, wodurch die Person Christi und sein Leiden in den unmittelbaren Fokus gerückt wird. Bei den Panorama-Szenarien aus dem 15. Jahrhundert (und natürlich auch später, wie bei Rembrandt oder Munkácsy), die ebenfalls als Ecce homo bezeichnet werden, geht es um die Zurschaustellung Jesu vor dem jüdischen Volk und sie sind mehr erzählerischer Natur.

Giovan Francesco Barbieri (1599-1666): Ecce homo

Ich möchte mich zudem gar nicht auf diesen einen Bildtyp beschränken. Ich möchte das Jesus-Bild in seinem ganzen Reichtum sehen, verstehen und reflektieren. Dass ich in der kurzen Zeit nicht alles recherchieren und betrachten kann, ist mir natürlich klar. Wie soll ich vorgehen?

Mich ganz konkret an einzelnen Bildern abzuarbeiten, um mich dadurch dem Ganzen zu nähern, bietet sich logisch an. Das Ergebnis könnte sich dann in Form von bildlichen Paraphrasen manifestieren. In diesem Fall wird meine Arbeit zur Appropriation – eine durchaus spannende künstlerische Methode, deren sich Künstler bereits in vergangenen Jahrhunderten gerne bedienten. Mit dieser Methode würde ich mich quasi in die Tradition der christlichen Kunst direkt einreihen.

Emese Kazár: Begegnung. 2015, Öl/Leinwand, 120 x 70 cm

Die andere Möglichkeit wäre, erstmal alles, was mich interessiert, zu lesen und zu betrachten. Um im Anschluß, wie durch einen Filter, das Gesehene in meine Malerei zu transformieren und dabei möglicherweise alles durcheinaderzumischen. In meiner üblichen künstlerischen Praxis geschieht dies auf eine ganz natürliche Weise. Dadurch entstehen zwar kunsthistorische Bezugnahmen, die jedoch für den Betrachter nicht zwingend zu erkennen sind. So zum Beispiel meine Arbeit Begegnung aus dem Jahr 2015 entstand im Zuge meiner Beschäftigung mit den Infantinen-Porträts von Diego Velázquez. Mich interessierte die Determiniertheit der Identität der kleinen Prinzessin, die bereits im Kindesalter verlobt wurde. Das hat etwas Beklemmendes, obwohl ihr königliches Leben sicherlich kein allzu schlechtes gewesen sein muss.

Letzlich kann ich die beiden Möglichkeiten auch mischen oder mich zusätzlich anderer künstlerischen Verfahren bedienen. Für mich sind Kirchen (zumindest die katholischen) als architektonische Räume Zeugen der europäischen Geschichte: Durch die Schätze, die sie im Laufe der Zeit hervorgebracht haben und aufbewahren, geben sie – wie ein Bohrkern – Einblicke in unterschiedliche Epochen und konservieren deren Glauben, Kunst und Ideologien.

*Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Mit diesem Satz beginnt das Johannesevangelium.

DER MOMENT DER (DIS)AFFIRMATION ODER IST DAS NUR KUNST?

Was passiert, wenn ich Jesus-Bilder in einer evangelischen Kirche hänge?

Ein Szenario wäre, dass nichts passiert. Die evangelische Kirche St. Stephani in Bremen ist eine Kulturkirche, die regelmäßig Ausstellungen veranstaltet. Meine Ausstellung wird nicht die erste und auch nicht die letzte sein, die Bilder im Inneren dieser Kirche präsentiert. Die Besucher wissen, dass es sich um eine Stipendiaten-Ausstellung handelt, und alles, was hängt, lediglich Kunst ist.

Würde ich dann, der Logik folgend, die selben Arbeiten in einer White Cube-Situation zeigen, würde genau dasselbe Nichts passieren?

Eine Kulturkirche ist Austragungsort von diversen kulturellen Ereignissen, zu denen auch Ausstellungen der bildenden Kunst gehören, in deren Rahmen oftmals Bildwerke gezeigt werden. Andererseits ist die Kulturkirche trotzdem auch eine Kirche, mit all ihrer Spiritualität, Erhabenheit und Heiligkeit. In der evangelischen Kirche St. Stephani hängen keine Bilder, weder solche, die zur Liturgie gehören, noch solche, die als Anregung für die persönliche Devotio dienen. Mein Projekt besteht jedoch darin, Bilder zu malen, die das Jesus-Bild zum Bezug nehmen. Das Jesus-Bild frühchristlicher Ikonen, vom Schweißabruck der Veronika, im Altarbild, im Andachtsbild.

Das Jesus-Bild ist ein Kultbild*. Es ist das Bild schlechthin, das das westliche Christentum festigte, seine Macht gewisserweise begründete. Die Frage könnte man, um konkret zu sein, eher so stellen: Werde ich Kultbilder malen, indem ich ein Kultbild zum Thema meiner Malerei mache?

Würde es, wenn es so wäre, einen Unterschied ausmachen, ob ich die selben Bilder in einer protestantischen oder in einer katholischen Kirche zeige? Könnten meine Arbeiten in der evangelischen Kirche auf Kritik stoßen und würden sie in einer katholischen Kirche eine religiöse Funktion annehmen?

Oder bewirken meine Arbeiten durch die Malweise sowieso den nötigen Abstand und es steht außer Zweifel, dass die Gemälde nicht als religiöse Bilder betrachtet werden können? Wie selbstverständlich ist diese Distanz in meiner Malerei angelegt? Wie weit darf ich mich dem bekannten Jesus-Antlitz annähern, ohne dass ich ein Bild für den Andacht male und wie viel muss ich andererseits andeuten, damit die Assoziation überhaupt entsteht? Wo ist die Grenze?

Ist diese Grenze genau auszuloten überhaupt notwendig? Muss ich mich darum bemühen, dass beim gläubigen Betrachter keine religiösen Empfindungen entstehen? Warum eigentlich? Man kann Caravaggios Altarbild, die Pilgermadonna in der Basilika Sant’Agostino in Campo Marzio in Rom besuchen, um die Gottesmutter zu ehren, und gleichzeitig das Meisterwerk der Malerei sehen, ein Stück Malereigeschichte, das die Abkehr vom Manierismus einleitete.

Was mich und meine Malerei betrifft, ist es vielleicht gerade das Oszillieren zwischen Distanz (Reflektiertheit) und Nähe, das mir dabei helfen kann, die Auseinandersetzung mit dem Jesus-Bild anzuregen und darüber hinaus zu führen. Ein imaginärer Zaun hingegen, der zwischen der Kunst und dem religiösen Ort aufgebaut wäre, würde möglicherweise zur reinen Intellektualisierung der Malerei führen. Gegenwartskunst, die relfektiert wird und nichts mit der Religion zu tun hat.

So drehe ich die Fragestellung noch einmal um. Ist es überhaupt möglich, mit meiner Malerei die Distanz, die durch die protestantisch bedingte Abwesenheit religiöser Bilder und durch den in der Kulturkirche gewohnten Präsenz aktueller Kunstwerke bereits gegeben ist, durchzubrechen und eine christliche Nähe zu den Bildern herzustellen?

*Kultbild möchte ich hier im Sinne eines Bildes, das dem Kult der Kirche dient, verstehen. Über die Problematik des Begriffes im kunsthistorischen Kontext s. Martin Büchsel, Einleitung. Abkehr vom „Kultbild“ als Epochenbegriff in: Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. Martin Büchsel, Rebecca Müller (Hrsg.) Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 10. Gebr. Mann Verlag Berlin, 2010

Warum Jesus?

In meiner Malerei lasse ich immer wieder kunsthistorsiche Bezugnahmen anklingen, ohne direkte Bildzitate heranzuziehen. Das ist kein Programm, die Bezugnahmen entstehen wie von selbst, da ich nie nach Vorlagen, sondern immer „aus dem Kopf“, aus dem visuellen Gedächtnis arbeite. Dennoch sind die Bild-Referenzen Teil meines künstlerischen Konzeptes.

Unsere heutige Kultur ist ein Ergebnis von 2000+ Jahren Europäischer Geschichte. Diese Geschichte wiederum ist geprägt von Bildern, und die Bilder prägten (und prägen) unser Denken. Ein großer Teil dieser Bilder ist Kunstgeschichte, Malerei. Für mich bietet sich an, die Geschichte der Malerei im selben Medium aufzugreifen und dadurch – hoffentlich – zu einer reflektierten (Selbst)Betrachtung unserer Seh- und Denkweisen beizutragen.

Angefangen habe ich mein malerisches Werk mit dem Rezitieren der Gattung des weiblichen Aktes. Seit ca. 4 Jahren bewegen sich meine Bildmotive verstärkt auf dem Gebiet der Porträtmalerei, ohne jedoch im klassischen Sinn ein Porträt malen zu wollen. Es geht mir nicht darum, konkrete Personen verlebendigen-vergegenwärtigen zu wollen oder ihre Persönlichkeiten durch die Physiognomie zum Ausdruck zu bringen.

Imago©Emese Kazar 2018

Emese Kazár: Imago. 2018, Öl/Holz, 35×47 cm

Viel mehr geht es mir darum, zu fragen, was ein Bildnis nicht ist, was aber ein Bild ist. Wie viel muss ich andeuten, um die Assoziation auf ein menschliches Gesicht zu erwecken, ohne jedoch zu konkret zu werden. Die Malerei als Gefüge malerischer Setzungen muss natürlich entschieden sein, sonst würde das Bild als unfertig erscheinen. Aber das Gemalte im Bild darf in meiner Auffassung der Malerei nicht abbildhaft sein.

Das Thema des Jesus-Bildes ist für mich gewisserweise eine Notwendigkeit, um dem Genre Porträt auf den Grund zu gehen und zum Nullpunkt des Porträts zu gelangen. Die Tradition der Christus-Ikonen geht auf das “wahre Bild” zurück, das Veronika mit dem Selbstabdruck des Christus-Antlitzes auf einem Leinentuch empfing. Das Bild Jesu proklamiert demnach Anspruch auf die Originalität und Wahrheit.

Zugleich ist es ein Imago, das immer wieder gemalt werden kann und soll. In diesem Sinn bleibe ich mit meinem Projekt in der christlichen Tradition der Malerei, andererseits werde ich das bekannte Bildmotiv in meine eigene Bildsprache umsetzen.

Meine Recherche geht los – in der Bibliothek und im Atelier. In den Blogbeiträgen, die folgen, möchte ich Sie und Euch, liebe Leserinnen und Leser, einladen, mich auf meiner Reise mit dem Jesus-Bild zu begleiten.